In kaum einem Deutschlehrwerk fehlt ein Kapitel über Heimat. Ich frage mich oft, wie Sie als Lernende diesen Begriff in Ihre Gedankenwelt übersetzen. Was machen Sie daraus? Welche Assoziationen und Erfahrungen verbinden Sie damit? Ist meine Heimat Ihr kampung halaman? Klar, „Heimat" ist ein Synonym für „Zuhause". Aber „Heimat" klingt irgendwie älter, romantischer, oder? Es klingt nach einem Ort, an dem sich seit langer Zeit nichts verändert hat, als wäre die Zeit stehen geblieben und trotzdem - oder sogar deswegen? - alles gut. Kann es so einen Ort geben?
Dari mana pak? - Saya asal dari Jerman pak. Ich sage lieber, dass ich aus Deutschland komme. Lieber als: „Ich bin Deutscher." Denn „Ich bin Deutscher" klingt so, als wäre damit alles über mich gesagt. O gitu, orang Jerman, alles klar. „Ich bin": Das ist wie ein Pass, eine Identität (eine völlig zufällige: wir haben uns ja nicht ausgesucht, wo wir geboren werden.) Hingegen: „Ich komme aus Deutschland."
Ja, da komme ich her.
Das ist der Weg, den ich gegangen bin: von dort nach hier. Ich war dort, aber ich komme (Präsens) immer noch her: Herkunft, das ist ein Kommen, das kein Ankommen kennt.
Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache definiert Heimat als „Ort, Gegend, Land, wo jemand zu Hause ist, sich zu Hause fühlt"1. Diese Definition zeigt ziemlich gut die Unschärfe des Begriffs. Erstens kann die Größe oder „Ausdehnung" von Heimat sehr stark variieren: sie kann zum Beispiel das Elternhaus oder die Stadt, in der man aufgewachsen ist, sein; aber auch etwas viel Größeres, wie Vaterland oder Nation. Aber Heimat ist kein geographischer Begriff. Sie ist - zweitens - weder eine rein subjektive noch eine objektive Realität. Wo ich mich zu Hause fühle - das ist meine subjektive Vorstellung von Heimat. Aber bin ich an dem Ort, an dem ich mich eigentlich zu Hause fühle, auch wirklich zu Hause? Sehen das die anderen genauso? Wem gehört Heimat? Kann man Heimat überhaupt besitzen? Diese Offenheit des Begriffs macht „Heimat" vielseitig verwendbar: in persönlichen Erzählungen und Dorfromanen ebenso wie in politischen Diskursen.
„Heimat" ist also aufgeladen mit Bedeutung. Aber was ist sie nun? Ein Ort? Ein Gefühl? Ein Komplex von Erinnerungen? Der Schriftsteller Bernhard Schlink definiert Heimat als Utopie, als „Nicht-Ort": „So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat - letztlich hat sie weder einen Ort, noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort. Heimat ist Utopie."2 Der Philosoph Ernst Bloch schrieb über die Heimat, sie sei etwas, das „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war"3. „Diese Heimat der Kindheit ist nichts anderes als ein Ineinander von Abenteuer und Geborgenheit. (...) es ist die Gewissheit, dass es die Menschen, die Welt, das Universum im Wesentlichen gut mit einem meinen. Ein Ort, zu dem man vielleicht immer wieder zurückkehren kann, den man vor allem aber immer in sich haben wird."4 Der Pädagoge Gerhard Handschuh unterscheidet vier Dimensionen von Heimat: eine räumliche Dimension (ein bestimmter Ort, eine bestimmte Landschaft), eine Zeit-Dimension (zum Beispiel die Erinnerung an die Kindheit), eine soziale Dimension (zum Beispiel Beziehungen zur Familie, zu Freunden und Nachbarn) und eine kulturelle Dimension (zum Beispiel Bräuche, Kleidung, Essen, Sprache)5.
Ein Beispiel: Ich komme aus Dietfurt an der Altmühl, einer kleinen Stadt im nördlichen Bayern, in der etwa 2600 Menschen leben (also eigentlich ein kampung). Die Landschaft dort ist sehr schön. Typisch sind die Trockenhänge - also Hügel, auf denen wenige Bäume wachsen -, die entstanden sind, weil jahrhundertelang Schafe die Büsche gefressen haben. Diese Vegetation erinnert mich manchmal an Gegenden im Mittelmeer, zum Beispiel in Griechenland. (Ich träumte mich schon als Kind gerne in andere Länder). Die Freizeitmöglichkeiten in Dietfurt waren begrenzt: zur Auswahl standen eigentlich nur Sportvereine und der Kirchenchor. Beides hat mich wenig interessiert. Nach der Grundschule wechselte ich auf ein Gymnasium in einer anderen Stadt. Später zog ich nach Regensburg, dann zum Studium nach München, danach ging ich „ins Ausland". Wenn ich also sage, dass Dietfurt meine Heimat ist, dann sage ich das nicht in einem emphatischen Sinn: mich verbindet mit dieser Stadt zugleich sehr wenig und sehr viel. Bei „Heimat" denke ich vor allem an meine Familie, Freunde, Kindheit. Deutschland bezeichne ich eher selten als meine Heimat. Ein Land ist einfach zu groß für eine „Community".
Der Begriff „Heimat" hat eine lange Geschichte. In dieser Geschichte ist „Heimat" immer mehrdeutiger geworden. Bis etwa Anfang des 19. Jahrhunderts wurde „Heimat" vor allem als ein rechtlicher Begriff verwendet: „Eine Heimat zu haben bedeutete, Haus und Hof in einer Gemeinde zu besitzen. Das Heimatrecht regelte, wer sich in einer Gemeinde niederlassen, dort leben und einer Arbeit nachgehen durfte. Daran geknüpft waren soziale Rechte und Pflichten, insbesondere in der Armenfürsorge."6
Im 19. Jahrhundert gewann das Wort „Heimat" dann stark an Bedeutung. Das hat zum einen mit dem aufkommenden Nationalismus zu tun. Bis 1871 gab es ja keinen deutschen Nationalstaat. Das Heilige Römische Deutscher Nation, das sich 1806 auflöste, hatte aus hunderten kleinen Territorialstaaten (Königreiche, Grafschaften, Herzogtümer etc.) bestanden. Die Sehnsucht nach einem vereinten deutschen Nationalstaat wuchs in dem Maß, in dem das Alte Reich zerfiel und Napoleon östlich des Rheins Krieg führte. Allerdings war „Heimat" nicht identisch mit „Nation".
Ein zweiter wichtiger Faktor für den modernen Heimatbegriff war die Industrialisierung. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der Industriellen Revolution waren massiv: Es entstanden neue Berufe in der Industrie, eine neue soziale Klasse (die Arbeiter) und neue Verkehrswege (die Eisenbahnen). Die Menschen wurden mobiler, die Städte größer, das Modell der Großfamilie (Mehrgenerationenhaushalte) verlor an Bedeutung. „Je mehr die Lebenswelten der Menschen (...) von Zerstörung bedroht schienen, desto größer wurde das Bedürfnis, diese noch einmal festzuhalten, gewissermaßen einzufrieren."7 Damit nahm der Begriff „Heimat" erstmals eine nostalgische Dimension an: Heimat war das, was (vermeintlich) verloren war oder gerade verloren ging.
Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sich viele regionale Heimatvereine, die sich zum Beispiel der Pflege von Brauchtum (Trachten, Volkskunst) widmeten. In der Architektur kam der „Heimatstil" in Mode, der sich bewusst antimodern gab und sich auf ländliche Baustile bezog. „Heimat" wurde zunehmend zu einem politischen Kampfbegriff mit rassistischen und antisemitischen Untertönen.
Im Zentrum der „Heimatschutzbewegung" stand das ideologische Konzept „Volk", verstanden als ethnisch, „rassisch" und kulturell homogene Nation. Dieser politische Heimatbegriff richtete sich in der Weimarer Republik gegen „Demokratie, Urbanität, Fremde oder die Moderne schlechthin"8. Die Ideologie des Nationalsozialismus radikalisierte dieses Denken schließlich noch weiter: Wer nicht „deutsches Blut" hatte, konnte nicht zur „Volksgemeinschaft" gehören, war „rassisch" minderwertig - und durfte daher vernichtet werden, um dem „deutschen Volk" Platz zu machen.
Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist es verständlich und gut, dass sehr viele Menschen dem politischen Heimatbegriff gegenüber skeptisch sind. Nach den Erfahrungen der Hitler-Diktatur, des 2. Weltkriegs und des Holocaust spielte „Heimat" in der deutschen Politik lange Zeit keine große Rolle. Sie war aber sehr präsent in den kitschigen Heimatfilmen, die in den 50er und 60er Jahren populär waren. Die Geschichten spielten auf dem Land, meist in den Bergen, es ging um Liebe, Eifersucht, Familie, Natur, Musik. Die schlechten Einflüsse kamen in diesen Filmen immer aus der Stadt, und Krieg oder Nationalsozialismus hatte es nie gegeben.
In den 70er Jahren verwendete die Linke einen modernen und urbanen Heimatbegriff - jetzt in Abgrenzung zum Staat und zur kapitalistischen Wachstumsgesellschaft: „Heimat ist, wo das kulturelle und soziale Umfeld angesiedelt ist und man sich so geborgen fühlt." Das konnte auch die eigene Kommune oder der Großstadtkiez sein.9
Nach der sogenannten „Flüchtlingskrise" 2015 hatte „Heimat" als politischer Begriff ein Comeback. Populistische, rechtsextreme und migrationsfeindliche Bewegungen und Parteien nutzen ihn als Kampfbegriff. Sie wollen bestimmen, für wen Deutschland Heimat ist. Sehr kontrovers wurde 2017 die Umbenennung des Innenministeriums in „Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat" diskutiert.10
Auch ich finde diese Umbenennung falsch: Heimat braucht kein Ministerium. Diese Kontroversen haben zwölf postmigrantische Autorinnen und Autoren zum Anlass genommen, um ihre Sichtweisen auf Heimat in dem Essayband „Eure Heimat ist unser Albtraum" zu veröffentlichen. In ihrem Vorwort fragen die Herausgeberinnen die Leserinnen und Leser: „Will ich in einer Gesellschaft leben, die sich an völkischen Idealen sowie rassistischen, antisemitischen, sexistischen, heteronormativen und transfeindlichen Strukturen orientiert? Oder möchte ich Teil einer Gesellschaft sein, in der jedes Individuum, ob Schwarz und/oder jüdisch und/oder muslimisch und/oder Frau und/oder queer und/ oder nicht-binär und/oder arm und/oder mit Behinderung gleichberechtigt ist?"11 In diesem Sinn kann „Heimat" vielleicht seine Relevanz behalten - nicht als Privileg oder exklusiver Besitz einiger, sondern als gemeinsames Projekt aller, unabhängig von ihrer Herkunft.
Für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema empfehle ich den Dokumentarfilm Sound of Heimat von Arne Birkenstock über aktuelle Folkloremusik in Deutschland (2012, 90 Minuten); die dreiteilige Filmreihe Heimat von Edgar Reitz, eine Chronik des 20. Jahrhunderts; sowie Gegen die Wand, jenen Film, mit dem Fatih Akin seinen internationalen Durchbruch als Regisseur hatte. Eher kurios sind die Heimatfilme der 50er Jahre wie Der Förster vom Silberwald, Die Fischerin vom Bodensee oder Und ewig singen die Wälder, die man auf YouTube anschauen kann.
Empfehlenswert sind auch folgende Aufsätze und Bücher:
Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. Reflections an the Origin and Spread of Nationalism. Revised Edition, London/New York: Verso 2006.
Applegate, Cella: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley: University of California Press 1990.
Aydemir, Fatma und Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin: ULLstein Verlag 2019.
Heizmann, Jürgen (Hg.): Heimatfilm international, Stuttgart: Reclam 2016.
Ranan, David (Hg.): Sprachgewalt Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe, Bonn: Dietz 2021.
Metz, Markus und Seeßlen, Georg: Heimat - Der offene Begriff, Deutschlandfunk, 3.10.2019.
Über den Autor
Christian Rabl, DAAD-Lektor im Studiengang Germanistik an der Fakultät für Kulturwissenschaften, Universitas Indonesia. Studium der Fächer Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Neuere deutsche Literatur, Italienische Philologie und Kunstpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Akademie der Bildenden Künste München und Accademia di Belle Arti Neapel. Nach dem Studium Lehr-und Arbeitsaufenthalte in Bulgarien, Republik Moldau und seit 2016 in Indonesien. Hobbies: Lesen, faul sein, Leuten zuschauen, ab und zu Badminton. Allergisch gegen Fleisch und Fun Facts. Lieblingsessen in Indonesien: petai goreng (serius!)
[1] https://www.dwds.de/wb/Heimat
[2] Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 32.
[3] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Band 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 1628.
[4] Metz, Markus und Seeßlen, Georg: Heimat - Der offene Begriff, Deutschlandfunk, 3.10.2019. URL: https://www.deutschlandfunk.de/heimat-als-utopie-heimat-der-offene-begriff.1184.de.html?dram:article_id=457932
[5] Gerhard Handschuh: „Brauchtum - Zwischen Veränderung und Tradition", in: Heimat, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1990. Zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Heimat
[6] Marcus Funck: „Heimat", in: Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe, hg. von David Ranan, Bonn: Dietz 2021, Position 1311 (E-Book).
[7] Funck: „Heimat", a.a.O., Position 1326.
[8] Funck: „Heimat", a.a.O., Position 1350.
[9] Mithu Sanyal: „Zuhause", in: Eure Heimat ist unser Albtraum, hg. von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah, Berlin: Ullstein Verlag 2019, Position 1162 (E-Book).
[10] So kommentierte zum Beispiel Margarita Tsomou, Mitherausgeberin des Missy Magazine: „In der Erfindung des Innenministeriums als Heimatministerium wird suggeriert, dass dieses Land für niemanden ein Zuhause sein kann, für die oder den es nicht schon immer Heimat war«. Zitiert nach: Eure Heimat ist unser Albtraum, a.a.O., Position 1117.
[11] Eure Heimat ist unser Albtraum, a.a.O., Position 74.
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